zur "Gnade der späten Geburt"

Auf die vorstehende Mail Bezug nehmend, antwortete Frau S.:

>>> eine "Unbeteiligten-Perspektive" ist mir nicht nur in Deutschland nicht begegnet - in keiner Generation. 
Es gibt noch immer Opfer und Täter und Kinder von Opfern und Tätern und Kinder von Kindern von Opfern und Tätern. 
Und das spielt im Heranwachsen eine große Rolle.  Denn "Die Gnade der späten Geburt" ist Kohl. <<<
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Anmerkung Sven:

Hallo Frau S.,

bis auf das Kohl-Zitat haben Sie vollständig recht und wäre es anders, so würden wir kein Antifaschismus-Web veranstalten.

"Die Gnade der späten Geburt" ist jedoch unbestreitbar. Und zwar für alle, die den Faschismus nicht mehr erleben mussten. 
Sogar auch für diejenigen, die sich Deutschlands NS-Zeit erneut wünschen würden.

"Die Gnade der späten Geburt" ist den Menschen zudem auch "subjektiver Faktor", auf den sie sich zurecht berufen, wenn sie, was tatsächlich nicht selten geschieht, in irgendeiner Weise für die NS-Verbrechen "in die Haftung genommen" werden.

Wäre unter "in die Haftung nehmen" einzig zu verstehen, dass jemand vor Gericht gestellt würde oder auf Schadensersatz verklagt, so wäre verkannt, dass es zur Herausbildung von politischer Ressentiments erheblich weniger "Haftung" ausreicht.

Ich lasse mich von Ihnen revidieren, was die "Unbeteiligten-Perspektive" anbetrifft, aber lediglich in dem Sinne der "subjektiven Nichtbeteiligung".

Die Parteinahme pro oder contra auf beispielsweise Entschädigungsansprüche machen aus dem Befürworter keinen ehemaligen Widerstandskämpfer, keinen ehemaligen Zwangsarbeiter und kein Holocaust-Opfer.

Das nämlich würde ich unter "Opfergetue" verstehen.

Umgekehrt gilt es zu begreifen, dass jemand, der Entschädigungsansprüche ablehnt, nicht zeitensprungartig mit SS-Killern identifiziert werden kann.

"Die Gnade der späten Geburt" ist kein Kohl, sondern sowohl eine Chance wie eine Falle.

Es kommt allein darauf an, wie wir damit umzugehen verstehen: 

Diffamiert man das Bewusstsein und die Berufung auf "die Gnade der Spätgeborenheit" als Versuch von Menschen, der historischen Schuld zu entkommen, dann würde man sie also für die Schuld (bestimmter) Väter und Großväter in die stellvertretende Haftung nehmen wollen. 

Sie haben recht, dass noch immer Täter leben, die nicht vor Gericht gestellt wurden.

Sie haben recht, dass die die späteren Generationen nicht "Unbeteiligte" sind, wenn es um die Wahrnehmung des Faschismus geht.

Sie haben  recht, dass die späteren Generationen ihre politisch-moralischen Wurzeln in den NS-Generationen haben, dass dies "im Heranwachsen eine große Rolle spielt".  Aber verkenne man nicht die Art dieser "großen Rolle", denn sie war zugleich vielfältig:  die NS-Generationen, das waren eben nicht nur Täter, sondern Mitläufer, Feiglinge, sich schämende Zuschauer, aktive Widerstandskämpfer, Homosexuelle  und die Opfergruppen des Holocaust. 

Lassen Sie bitte nicht den Eindruck entstehen, dass Sie den späteren Generationen die "Nichtbeteiligung" an den NS-Verbrechen nicht zugestehen.

Dann nutzen uns die Mahnmale schlecht, wenn man mit ihnen die Konflikte der Vergangenheit in die Gegenwart holt. Anstelle von Gedenken und Mahnung.

Walser widersprach ich, als er "Verjährung der Schuld" forderte. 

Denn 1. kann es eine "Entschuldung" nicht geben, weil die Ermordeten Ermordete sind und durch niemanden zu vertreten. Und für Schuld gibt es keine Verjährung. Aber sie ist individuell, keinesfalls "Kollektivschuld der Deutschen".

Und 2. weil diejenigen, die "nachgeboren" sind, ohnehin keine Schuld haben, also auch nicht zu "entschulden" sind.

Sehen Sie, niemand ist zur Vergebung verpflichtet. Sie nicht, ich nicht. Aber ich rate dazu - in Maßen. 

Nur eines darf überhaupt nicht sein: dass unser Verlangen nach antifaschistischer Aufmerksamkeit sich damit behelfen versucht, dass er Menschen Schuld unterstellt oder auch nur Eindruck davon, wenn diese Menschen objektiv keine Schuld haben, ansonsten würden wir die faschistische Trotzreaktion der zu unrecht Beschuldigten verschulden.
 
Dieses "Wir" gilt es ernstzunehmen, ansonsten greift der Appell nicht, der von einem Holocaustmahnmal ausgehen soll, denn wäre die Mahnung einzig Sache der Opfer, so stünden sie damit erneut so allein wie in den Tagen, als sie zu Opfern wurden - und die breite Öffentlichkeit schaute zu.

"Wir" müssen auch mit den Dilettanten leben wie überall in der Politik. Aber der Dilettantismus ist eben nur deshalb obenauf, weil die Besserwissenden es nicht besser wissen, wie sie obenauf kommen.

Herrn Kohls Wort von der "Gnade der späten Geburt" widersprach ich zum damaligen Zeitpunkt nur, weil ich wohl darin auch die Falle sah, dass die späteren Generationen kein Verantwortungsbewusstsein gegen erneut Faschistisches entwickeln.  -  Wir sollten jede jüngere Generationen als Chance begreifen, Fehler der vorhergehenden so aufzuarbeiten, dass sie sich nicht wiederholen.  
Wenigstens darin werden sich wieder alle einig sein:-), aber solche Einigkeit ist trügerisch, wenn man nicht genügend auf die meinungsverschiedenen Implikationen achtet.

Herzlichen Dank für Ihre Kritik, denn sie war Anregung. Auch das ist Sinn des Dialogs.

Grüße von Sven
Redaktion

ps: Haben Sie bitte Verständnis dafür, dass wir unsere Korrespondenz von Fall zu Fall veröffentlichen und dass wir es anonymisiert tun, aber würden wir es komplett unterlassen, würden wir von morgens bis abends korrespondieren und unser Web-Projekt hätte gar nichts davon, was wiederum vielen lieber wäre:-), doch uns nicht. Und darum machen wir es.


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